Bei den Special Olympics Landesspielen in Mainz stehen Menschen mit geistiger Beeinträchtigung im Mittelpunkt und auf Podesten – es geht um Medaillen, Teilhabe und darum, wer am lautesten anfeuern kann.
“Wo sind unsere Pompoms? Hat der andere Verein die gestern mitgenommen?” Kurz nach neun ist die Luft auf der Leichtathletik-Anlage in Mainz-Gonsenheim noch kalt. Am Rand der Tartanbahn hat der inklusive Sportverein Wäller Sportgemeinschaft (WSG) sein Lager aufgeschlagen für den zweiten Wettkampf-Tag der Special Olympics Landesspiele. „WSG – Wir Schaffen’s Gemeinsam“, steht hinten auf den Jacken.
Auch ohne ihre Puschel stehen jetzt mehr als 50 Vereinsmitglieder, Trainer*innen und Betreuer*innen gemeinsam hinter der Bande und feuern Annalena und Joy beim 1500 Meter Finale an. „Man darf nicht zu schnell, sonst zählt es nicht!”, befürchtet eine der Betreuerinnen. Tatsächlich werden die beiden Schülerinnen später zu schnell gewesen sein.
Aber erstmal freuen sich alle, dass sie sich an die Spitze des Teilnehmerfeldes gekämpft haben. Annalena ist elf und Joy vierzehn Jahre alt, sie sind beinahe gleich groß und laufen immer wieder im Gleichschritt. Sie sind zwei der vierzig angereisten Athlet*innen der WSG, die aus der inklusiven Sportgruppe Wäller Rolling Runners aus Bad Marienberg und der Wilhelm-Albrecht-Förderschule aus Höhn besteht. Die Gruppe aus dem Westerwald gehört zu den größten Delegationen bei diesen Special Olympics Landesspielen in Rheinland-Pfalz. Ungefähr eintausend Menschen mit geistiger Beeinträchtigung treten dabei am 21. und 22. Mai in elf Disziplinen gegeneinander an, von Judo über Radrennen bis Schwimmen.
Die Special Olympics bezeichnen sich als weltweit größte Sportbewegung für Menschen mit geistiger und mehrfacher Beeinträchtigung. Das ist auch der Unterschied zu den Paralympics, die sich primär an körperlich beeinträchtigte Athlet*innen richten. Neben den Sommer- und Winterspielen finden Spiele auf nationaler Ebene statt, oder zum Beispiel Landesspiele. Die durch das olympische Komitee anerkannte Organisation wurde 1968 von Eunice Kennedy-Shriver gegründet, der Schwester des ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Rosemary Kennedy, eine Schwester der beiden, hatte eine Lernbeeinträchtigung. Schwer behindert und pflegebedürftig wurde sie aber erst mit dreiundzwanzig durch eine Lobotomie, die ihr Vater angeordnet hatte. Bei der Hirnoperation werden Frontallappen und Zwischenhirn durchtrennt, um Schmerzempfindung auszuschalten oder unberechenbare psychisch Erkrankte ruhig zu stellen. Heute gilt der Eingriff als Missachtung von Patient*innenrechten und wird nicht mehr durchgeführt.
Nach Annalena und Joy flitzt nun die nächste Teilnehmerin der Gruppe über die Laufstrecke. Das aus Bierbänken und Picknickdecken bestehende Camp der WSG liegt zwischen der Tartanbahn und einem Beach-Volleyball-Feld am hintersten Ende des Leichtathletikgeländes. Mittlerweile ist ein Reisebus mit Fans aus dem Westerwald angekommen. Auch eine Grundschulklasse der Gleisbergschule ist da, zum Zuschauen und Stimmung machen. Dina hat sogar goldene Pompoms dabei.
Ein Junge in WSG-Jacke und Leggins mit lila Galaxien-Print rennt mit ausgebreiteten Armen über eine Startbahn, die nur für ihn sichtbar ist, und hebt auf dem Beach-Volleyball-Feld ab. Nach einer Schleife über durch den Sand landet er wieder. „Mein Flugzeug ist gerade von Bhutan gekommen! Dies ist der letzte Aufruf für Etihad 339 nach Marokko. Gate 4 wird geschlossen!“ Der neunjährige Samuel ist in der dritten Klasse der Grundschule Hachenburg aber über Flugzeuge weiß er schon sehr viel. „Wenn ich bei Wind landen muss, mach ich die Spoiler hoch, oberes Hinterruder auf 400 Grad links, das untere Hinterruder auf 400 Grad rechts und lenke rein“, erklärt er fachmännisch. Samuel hat Autismus. „Kognitiv ist er mega fit, aber Schule ist die Hölle, trotz I-Kraft“, beschreibt seine Mutter Annette Baum. Gerade im Sportverein sieht sie aber viel Inklusionspotenzial, eher als in der leistungsorientierten Schule.
Von einer Bierbank aus beobachtet Timon Richter das Geschehen. Der Siebzehnjährige wurde eher zufällig Trainer der WSG: „Die Laufgruppe wurde immer integrativer und irgendwann hatte ich dann eine Leitungsfunktion!“ Er geht noch zur Schule und musste sich freigestellt werden, um die drei Tage mit dem Verein nach Mainz zu fahren. Die Schulleitung hat zum Glück eingewilligt, sonst hätte er sich krankgemeldet, erzählt er grinsend. „Krank wegen Faschismus“, wirft Samuel ein, der grade eben noch bei Timon Haare schneiden gespielt hat. „Schnippedischnappo“ setzt er dem Trainer die blauen Pompoms als neue Frisur auf den Kopf.
Plötzlich entsteht auf zwei Bierbänken ein Notfall-Meeting um die beiden Läuferinnen vom Morgen. Annalena und Joy waren zu schnell: Man darf nicht mehr als zehn Prozent besser sein als bei der Klassifizierung. Gestern wurde einer der Rollifahrer beim Werfen disqualifiziert, weil er zwölf Zentimeter weit warf und damit zwei Zentimeter vom Skill-Wert abwich – Betreuerin Claudia versteht es nicht. Anja Brenner ist Laufcoach beim WSG und findet: „Da müssen wir uns mal an Special Olympics Deutschland wenden.“ Eine Lehrerin der Schule googlet schon mal den Geschäftsführer. Sie überlegen, ob sie irgendwo Medaillen für die beiden enttäuschten Läuferinnen klauen können. „Wir sind halt so klein, wie kriegen wir die abgelenkt?“ „Komm wir sondieren mal die Lage.“ Bei den Special Olympics werden die Athlet*innen der Individualsportarten nicht nach Diagnosen eingeordnet, sondern anhand von Trainingswerten und Klassifizierungsturnieren in Leistungsgruppen eingestuft. Das soll einen fairen Wettbewerb ermöglichen aber unter Wettkampfbedingungen sind viele nochmal viel besser.
Um halb zwei ist endlich Samuels erster Lauf. Gyros und Tsatsiki von der Vereinsgaststätte neben der Anlage liegen in der Luft. „Danke, danke“, ruft Samuel, als er an der Fankurve vorbeiläuft, und winkt den Zuschauenden mit royaler Erhabenheit. Auch die anderen Läufer*innen müssen lächeln, wenn sie lautstark angefeuert werden. Samuel wird Vierter, seine Konkurrenten sind alle schon erwachsen. Für eine genauere Ausdifferenzierung der Leistungsgruppen gibt es nicht genug Teilnehmende. Nach dem Lauf ist er entspannt: „Ich könnte noch eine Runde laufen! Gleich hab‘ ich noch die Königsstaffel, 4x400m“. Das Team der WSG ist so groß, dass sie sogar zwei gemischte Staffel-Teams stellen. Annalena und Joy sind ebenfalls Teil der Staffel und haben sich vom Disqualifizierungs-Schock genug erholt, um zu starten. Die beiden Teams erreichen den zweiten und dritten Platz, hinter der Mannschaft der Lebenshilfe Trier. Aber die Feierstimmung ist trotzdem da. „Hui Wäller – allemol!“, ruft die WSG-Delegation jedes Mal einen Westerwälder Grußruf, wenn jemand der ihren in der Siegerehrung geehrt wird. Samuel jubelt als Viertplatzierter am lautesten bei der Siegerehrung. „Siuuu“ imitiert er den Torjubel von Fußballer Ronaldo.